Ich schreibe viele E-Mails in diesen Tagen, an Freunde, Kollegen. „Wie geht es Euch? Seid Ihr gesund? Wie kommt Ihr klar mit der Isolation? Uns geht es gut. Wir sind so froh, dass wir einen kleinen Garten haben.“
Wir sind froh, dass wir einen kleinen Garten haben. Wie oft habe ich diesen Satz gesagt oder geschrieben in den letzten Tagen? Ja, wir sind froh. Ganz besonders froh, in dieser Zeit, wo unser zaghaftes Heldentum, unser Beitrag zum Gemeinwohl sich vor allem darauf beschränkt, möglichst zu Hause zu bleiben.
Froh, dass ein Kleinkind sich dort unbeschwert austoben kann. Froh, dass unsere Tulpen angegangen sind. Wir sind im letzten Herbst extra in die „Bollenstreek“ gefahren, um die Zwiebeln zu holen und haben auch ein paar aus dem Hortus Botanicus der Universität Leiden mitgebracht – dort wo Carolus Clusius im 16. Jh. die ersten niederländischen Tulpen gezüchtet hat. Jeden Morgen brechen wir auf zu einem bescheidenen Rundgang, von Beet zu Beet, um ihr Blühen zu begutachten. Wir sind froh, dass die Blaubeerbüsche angegangen sind und die Weinstöcke und die Rosen. Froh, dass der Garten gut gepflegt war, als wir das Haus übernommen haben, und nicht fast vollständig zubetoniert, wie so viele hier in der Gegend. Froh über den Sommerflieder und die Hortensien.
Unser Garten ist klein und unspektakulär. Ein klassischer Reihenhausgarten, klassisch bepflanzt. Sauber abgegrenzt. Genauso groß und genauso geformt wie der Garten der Nachbarn und der Garten der Nachbarn der Nachbarn und so fort. Vom Dachfenster aus gesehen ein sauberes Raster zwischen hohen Zäunen. Der kleinbürgerliche (Alp)Traum. Aber es ist unser Garten. Unser Refugium. Ein Ort, den wir selbst gestalten und der für uns und mit uns wächst. Mein Mann hat eine Pergola gebaut, über die unser Wein rankt – mein Mann, der sonst über das Aufbauen von Ikea-Regalen handwerklich noch nicht wirklich hinausgekommen ist und in dieser Hinsicht auch keinerlei Ambitionen hegt. Wir entdecken also ungeahnte Fähigkeiten in diesem Garten. Und wir sind nicht erst jetzt froh, ihn zu haben. Ich würde sogar sagen, ohne diesen Garten wäre dieses Haus nicht wirklich unser Zuhause. In dieser seltsamen, stillen Zeit des Rückzugs, des Abwartens, was wohl noch kommt, was vielleicht noch droht, vielleicht auch nicht, gewinnt er an Bedeutung. Nicht nur für uns. Eine Freundin erzählt mir mit gleicher Eindringlichkeit, wie wichtig ihr Garten gerade jetzt für sie ist. Und auch, dass sie fast ständig ein schlechtes Gewissen hat, weil sie dort so viel Platz haben, während wiederum andere Freunde gerade mit ihren drei Kindern in einer Stadtwohnung in Madrid festsitzen, ohne Balkon.
Warum sind so vielen Menschen ihre Gärten so wichtig? In Zeiten der Krise und des „Social distancing“, aber auch sonst. Sicher gibt es ganz praktische Gründe, gerade wenn man Kinder hat: Platzgründe. Platz zum Toben, Spielen, für Fußbälle, die nicht durchs Wohnzimmer fliegen sollen (allerdings auch nicht gegen die Tulpen). Rauskönnen, raus an die frische Luft. Gartentür auf, tief einatmen, tief durchatmen. Der erste Kaffee in der Morgensonne, ein Buch lesen im Nachmittagsschatten, ein Glas Wein in der Abendsonne, der klare Nachthimmel, der Geruch der Erde nach dem Regen. Eine dünne Schicht Schnee. Die Schicht Federn, die der Bussard zurücklässt, der auf unserer Wiese eine Taube zerrupft. Als Kind zum ersten Mal zelten auf der Wiese hinterm Haus. Ein kleines behütetes Abenteuer. Man bleibt im eigenen Zuhause, im geschützten Raum, abgeschirmt durch Hecke oder Zaun, sicher, vertraut, aber draußen. Rauskönnen – ohne wirklich raus zu müssen. Das ist wohl ein Teil der Faszination. So wie ein Garten auch Natur ist, ohne wirklich Natur zu sein. Durch und durch kultiviert, kontrolliert, selbst wenn man ein bisschen Wildheit zulässt, ein bisschen Blumenwiese oder Unkraut.
Man gestaltet, man kultiviert, man plant, man sät, man hegt und pflegt, aber man lässt wachsen. Und dieses Wachsen hat man eben nicht ganz in der Hand. Das bleibt abhängig vom Boden, von Sonne, Regen, Wind, Regenwürmern, Nützlingen, Schädlingen, von Zwiebeln, Samen, Setzlingen und ihrem Leben. Ein Garten behält immer ein Eigenleben. Ist Leben. Symbolisiert Leben. Der Paradiesgarten. Der Anfang von allem. Der Heilkräutergarten. Der Nutzgarten. Und selbst wenn ein paar Küchenkräuter, drei von Schnecken angenagte Erdbeeren, eine Hand voll Blaubeeren und ein paar saure Trauben alles sein wird, was wir aus unserem Garten ernten werden, ist vielleicht ein Rest von Nutzen und Nahrung spürbar im Bedürfnis nach dem eigenen Garten, der eigenen Scholle – ein Rest vom Traum von der Unabhängigkeit des Selbstversorgers. Und wir werden wahrscheinlich nicht die einzigen sein, die in den ersten Tagen nach dem Lockdown und nach der ersten Begegnung mit leergekauften Supermarktregalen mit den Nachbarn über den Zaun hinweg gescherzt haben, dass man zur Not ja noch ein paar Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln anpflanzen könnte, wenn alles schief geht. Ein paar Hühner, als alte Ruhrgebietler vielleicht noch eine Bergmannskuh (also Ziege), dann ist man doch für den Ernstfall gerüstet …
Für mich ist der Garten ganz eng mit Kindheit verbunden. Den ganzen Tag draußen sein. Im Gras liegen. Die kleine Höhle hinten rechts unten den großen Rhododendren. Der kleine knorrige Apfelbaum, Cox Orange, keine Äpfel werden mir jemals besser schmecken. Mein kleines eigenes Beet hinterm Zaun, in dem ich mit wechselndem Erfolg Radieschen, Kräuter und Blumen anpflanze. Und hinter meinem Beet hinterm Zaun beginnt das Weizenfeld. Wachsen lassen, hegen, pflegen. Metaphern, die spätestens seit Rousseau auch gerne auf die Kindererziehung übertragen werden.
Die Schule des antiken Philosophen Epikur hieß „Der Garten“. Das stand auch damals schon für das geschütztes Gebiet des privaten Lebens. Epikurs Philosophie ist eine Philosophie des Glücks. Es geht darum, die eigene Seele zu kultivieren, zu pflegen wie einen Garten, um eine Haltung der Gelassenheit und Harmonie zu erreichen. Vielleicht kann uns der Garten etwas von dieser Haltung vermitteln.
Der große Denker der Aufklärung, Voltaire, beschließt seinen Roman „Candide“ nach den Erlebnissen einer großen Katastrophe – des Erdbebens von Lissabon – mit dem Satz „Il faut cultiver notre jardin.“ Ja, wir müssen unseren eigenen Garten kultivieren, uns selbst. Aber der Rückzug der Privilegierten ins Private, in den Garten, die kleine Idylle, in eine Art neues Biedermeier birgt auch eine Gefahr, sobald wir nicht mehr über den eigenen Gartenzaun hinaussehen. Der Garten darf ganz sicher nicht die einzige Antwort auf die großen Krisen dieser Zeit sein. Aber vielleicht können wir manchmal im Garten einen Teil der kleinen individuellen Antworten finden, die wir zusätzlich zu den großen Lösungsvorschlägen in Krisenzeiten gemeinsam finden müssen.
Katharina Bauer ist Assistant Professor für praktische Philosophie an der Erasmus Universiteit Rotterdam. Wenn sie noch Zeit findet, schreibt sie Lyrik.
https://eur.academia.edu/KatharinaBauer
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