Dachblüten
Einen richtigen Garten habe ich nicht. Ich lebe seit über 30 Jahren in einem Dachgeschoss und habe mir Topf für Topf einen Dachgarten ersammelt. Was mit drei Pflanzen anfing sind heute über 100 Arten in über 200 Gefäßen. Eine der ersten Pflanzen – eine Hosta – begleitet mich über drei Jahrzehnte, wurde zigmal geteilt, strotzt vor Kraft – auf dem Dach gibt es keine Schnecken! – und steht vor meiner Terrassentür im Pärchen Spalier, Geschwister davon stehen in unzähligen Parzellen von Freunden. Die ersten 15 Jahre goss ich mit zwei Gießkannen, indem ich den Duschschlauch durchs Badezimmerfenster in die Gießkanne hängte und mit dem fließenden Wasser um die Wette lief. Eine dreiviertel Stunde lang. Irgendwann gab es dann einen praktischen Wasseranschluss mit langem Schlauch. In dreißig Jahren entstand eine lebendige Community der verschiedensten Pflanzen. Baumsämlinge aus dem schwäbischen Wald meines Vaters hatten es mir in den ersten Jahren angetan. Die Eiche ist heute ein Riesenbonsai von etwa 1,5 Metern Höhe, die Buche tut es ihr gleich, die meterhohen Birken haben sich selbst ausgesät, der Ginkgo kam als mächtig stinkende Frucht in die Erde, ist über zwei Meter hoch und schwächelt zugegeben seit ein paar Jahren. 25 Jahre im Topf sind schon was. Eine Konifere, genauer eine Zuckerhutfichte, war vor mehreren Jahrzehnten ein Weihnachtsbaum im Topf. Dazu kommen Ahorne, deren Samen der Wind herbei geweht hat, Wal- und Haselnussgehölze, die die Eichhörnchen vergraben und vergessen haben. Eine Kletterhortensie mit oberarmdickem, herrlich schrundigem Stamm – eine Augenweide im Winter vom Sofa aus, begleitet mich seit Ewigkeiten. Eins kommt zum andern, aber es wandert von hier aus auch in viele andere Gärten zurück. Mancher Gast des Hauses verlässt das Dach mit Topf.
Was mich besonders interessiert: welche Pflanzen sich finden und welche auf Dauer miteinander können. Ein uralter Buchs koexistiert in einem Gefäß mit einem Farn, dessen Wedel über den Buchsschnitt hinausreichen. Lavendel leben mit Wolken von Geranium macrorrhizum. Euphorbien teilen sich die Treppe mit mediterranen Sonnenanbetern. Ich mag, was wird, greife erst spät ein, lasse geschehen und staune viel. Freiheit ist (m)ein großes Thema. Bei mir darf genistet werden (selbst der Zaunkönig weiß das), die Eichhörnchen flitzen hemmungslos an meinem Liegestuhl vorbei und ein Zinkzuber ist Badeplatz, Vogeltränke und Biotop einer Libelle.
Mit sehr vielen Pflanzen lebe ich schon sehr lange. Nur wenige – vor allem die nichtwinterharten Zwiebel- und Knollengewächse – wandern in und mit ihren Gefäßen Ende Oktober ins Winterlager im Haus. Ein herrlicher Tag, wenn sie im Mai wieder nach draußen dürfen. Die Schopflilien z.B. haben so schon viele Jahre überstanden wie die Sterngladiolen, die an Sommerabenden so schön duften mit ihren Sternchen, die wie ein Feuerwerk aussehen. Die großen Gefäße sind nur mit Männerkraft beweglich, die kleineren sind oft in Bewegung, werden je nach Zierwert umsortiert und neu arrangiert. Derzeit warten die Gefäße mit den Tulpen und Narzissen geduldig im Hintergrund auf ihre neue Zeit. Die Allium geben noch im Juni ihr Bestes. In diesem Frühjahr war besonders viel Bewegung. Der Shutdown fand für mich unter freiem Himmel statt. Nie war so viel Zeit, Corona machte es möglich. Mein Dach und seine Dachblüten sind von mir noch nie vorher so gewürdigt und genossen worden. Topf für Topf. Blüte für Blüte. Zum ersten Mal erlebe ich meine Lilien von Anfang an und muss mir keine Bilder in den Urlaub schicken lassen. Diesmal mache ich meine Bilder selber. Für die Lilienhähnchen ist Corona ganz schlecht. Sie werden von mir gefangen, bevor sie Schaden anrichten. Jeden Tag. Was ich mit ihnen mache, sage ich Euch nicht!
Claudia Gölz, NED.WORK GmbH, überzeugte PR-Frau für die verschiedensten grünen Themen und auf ihrem Dach Freizeitgärtnerin mit ausgeprägter Sammelneigung und großer Liebe zu kleinen Dachblüten.