torsten, linker niederrhein – germany

Stadt, Land, Flucht

Seit einigen Jahren lege ich im Auftrag meiner Kundschaft Gärten und Pflanzungen an. Die Bandbreite ist divers mit dem Ziel von Authentizität, wobei die Planung immer zuerst den Kunden wie auch den Standorten gerecht wird und nicht dem Leitbild einer Handschrift. Einige Pflanzungen laufen dabei mehr unter der Idee „Renaturierung“, die anderen bekennen sich deutlicher zur bekannten Gartenkultur mit den für sie typischen Arbeiten. Grundsätzlich bevorzuge ich duftende und nährende Pflanzen, wobei eine gute Textur- und Strukturwirkung oft noch wichtiger sind als die Blüte. Covid-19 hat daran nichts geändert. Allerdings haben sich dank Corona einige Projekte deutlich nach hinten verschoben. Kurzzeitig drohte ich meine gärtnerische Dialogbereitschaft mit der umgebenden Landschaft aufzukündigen. Doch hierzu gleich mehr.
Nun bleibt also mehr Zeit das eigene Land, um unseren neuen Wohnsitz mit Büro endlich zu begrünen und Lieblingspflanzen in unserer Nähe zu versammeln. Dabei geht es aber nicht nur um meine Bedürfnisse, denn ich lebe hier immerhin an der Seite meiner Frau. Ich hätte statt des Cercis siliquastrum vielleicht eher einen Cercidiphyllum japonicum gepflanzt, und das Budget für den bereits sehr großen Rhamnus taquetii habe ich einfach verschwiegen. Aus Rücksicht auf meine Kunden, die mein Büro neben dem Wohnhaus besuchen, haben wir uns darauf verständigt, nicht von einem „Garten“ zu sprechen. Es handelt sich um eine „entstehende Gehölzsammlung mit entwicklungsbedürftiger und weiterhin zu impfender Krautschicht“. Da wir nun seit zwei Jahren in einem Naturschutzgebiet leben, hatte ich nie das Bedürfnis, hier sehr erkennbar gärtnerisch tätig zu werden oder gar die vorhandenen Hecken oder Zäune zu belassen, eher sie vollständig zurückzubauen. Die Aussicht ist herrlich, obwohl es sich um eine eher arme, nicht sehr diverse Flora in kühler Seenähe handelt. Die Vielfalt an Fauna, insbesondere der Insekten, ist allerdings erstaunlich. Insbesondere wenn man das Umfeld von intensiver Landwirtschaft mit gelegentlichen Pseudo-Blühstreifen gewohnt ist.
Als wir die Plätze und eine erste Auswahl der Gehölze planten, gab es schon entsetzliche Bilder aus Wuhan zu sehen. Dann ging die Krise im Februar so richtig los. Unsere bereits fertige Gehölzliste für den eigentlichen Visite-Garten, also den einsehbaren Teil vor dem Haus, wurde plötzlich kritisch hinterfragt und es flackerte kurz mal die Überlegung auf, das bisschen Land doch besser für Gemüse- und Obstanbau zu nutzen. Gut, die Diskussion war schnell vorbei. Immerhin leben wir noch in einer arbeitsteiligen Gesellschaft und sollte sich das ändern, haben ganz andere Sorgen. Was nützt dann das Gemüse, wenn man es nicht verteidigen kann.
Wenn ich mich heute, Anfang Juni, an meinem Schreibtisch umdrehe, sehe ich durch eine Glastür nun die frisch gepflanzten Gehölze und einige Lieblingsstauden. Fast direkt an der Tür steht nun eine Taiwan-Kirsche, die noch ein paar letzte Blüten hält. Es sind nicht mehr diese hängenden, doldigen Blütenstände aus dem April, sondern nur noch locker verteilte, vereinzelte, in alle möglichen Richtungen deutende Blüten. Eigentlich darf man Prunus campanulata gar nicht empfehlen, da dieses niedrige Gehölz selbst am Niederrhein nur in geschützten Lagen ausreichend winterhart ist. Und eigentlich sollte das hier keine Werbeveranstaltung für Pflanzen werden. Eher so die Gedanken über Gärten und das Gärtnern in Zeiten von Covid-19, meinte Anke. (Gerade stelle ich fest, dass meine Rechtschreibkorrektur Covid noch nicht kennt. Corona ist ihr bereits bekannt. Neulich wunderte ich mich noch, dass dieses von mir nicht bevorzugte oder gar bevorratete Bier so richtig teuer geworden ist. Klar, denn welcher Teenie geht schon zu ner Corona-Party, wo es nur Becks gibt!) Ich lenke ab, denn ich will mich nicht betroffen fühlen.
Homeoffice kenne ich seit über 25 Jahren, weil die meisten meiner Tätigkeiten selbständige und solche waren, die man bequem an einem Schreibtisch und einem Computer erledigen konnte. Und eigentlich ist das hier kein Home- sondern ein richtiges Office. Aber das Wort Homeoffice klingt so schön nach Solidarität mit all den Werktätigen, die nun mehr oder weniger improvisiert noch von zu Hause arbeiten. Oder halt im Garten, der längst Teil meines Büros geworden ist. Wozu gibt es tragbare Computer und Telefone, wenn ich sie zum Arbeiten oder Kundengespräch nicht mit in den Garten nehmen darf? Okay, manchmal sind die Spatzen viel zu aktiv und nerven rum, dann plärren die Rauchschwalben und ich bin froh, wenn die Gänse endlich Ruhe geben.  – Wurde ich früher gegen Mittag noch süffisant gefragt, ob man schon stören dürfe, ist es heute eher die Frage: Herr Matschiess, sind Sie im Garten? – Frösche, Kröten und die eine Nachtigall nerven erst in der Nacht, wenn nur selten Kunden oder Kollegen anrufen. Gerade sitze ich immer noch in meinem Büro, denn draußen stürmt es viel zu stark und zu laut. Ich führe zurzeit viele Telefonate mit Menschen, die in der Stadt leben oder Menschen kennen, die in der Stadt leben, und die immer trauriger werden. Man hört diesen Stress in ihren Stimmen. Hoffentlich gibt ihnen die Politik und die Gesamtheit aller Viro- und Epidemiologinnen irgendwann wenigstens das Gefühl, dass auch sie systemrelevante, wenn nicht gar Super-Helden sind und ihr Opfer nicht umsonst war. Wer den Schmerz von Menschen, für die ein betretbarer Balkon schon ein ordentliches Privileg darstellt, ansatzweise nachempfinden möchte, meldet sich in einer Stadtteilgruppe im sozialen Medium der Wahl an und der Wahnsinn wird sichtbar. Gießen Sie da bitte bloß kein Öl ins Feuer, wenn Sie zu Zeiten, wo die Natur explodiert, zierliche Zimmerpflanzen entdecken und sich begrünte Balkone eher als untaugliches Mittel erweisen, einen Garten zu simulieren. (Ich weiß, dass es Ausnahmen gibt. Ich kenne selbst hervorragende Balkonbegrünung, aber die passen jetzt gerade alle nicht ins Bild!) Menschen, denen in einer Stadtwohnung nun nicht nur die geehelichte Person, sondern auch die Brut den ganzen lieben Arbeitstag auf die Pelle rücken, sprechen plötzlich vom Leben auf dem Lande, ein paar Hennen, vielleicht Gemüse, ein Obstbongert, ein schöner Garten …
„Nix da!“, höre ich mich spontan rufen und: „Wir wollen euch hier nicht! Schlimm genug, dass wir hier auf den Feldern unseren Humus opfern, um Eure Nahrung und Eure Energie mit zu produzieren, und wir zu allem Überfluss mit unserem sogenannten Leitungswasser die versickerten Reste von zum Teil bereits jahrzehntelang verbotener Agrochemie in gerade noch zulässigen Konzentrationen angeboten bekommen. Da möchte ich nicht einmal meine Pflanzen mit wässern! …“. „Schreib‘ das bloß nicht!“, höre ich Freunde sagen. „Du machst dich nur unbeliebt.“
Tatsächlich bin ich ungehalten über die Corona-Effekte auf unsere Gesellschaft, das großflächige Versagen von Medien und Teilen der Politik. Bereits vorher sah ich in Distanzlosigkeit die modische Geißel unserer Zeit. Während die Mehrheit sich in Angst und Schrecken versetzten lässt, stechen die Übergriffigen in meiner Wahrnehmung nun besonders hervor. Neulich, an einem dieser Corona-Party-Wandertage, wenn Horden in Freizeitkleidung den nahe gelegenen Wander-Cat-Walk absolvieren, hockte ich mutterseelenallein im Garten, um noch ein paar Riesen-Schuppenköpfe in die Wiese zu pflanzen. Sie kennen diese eleganten Stauden mit den langen, gebogenen Blütenständen, an deren Enden gelbe Scabiosen-Blüten gut zwei Meter über den Beeten pendeln. Von diesen Blüten existieren kaum Aufnahmen ohne Insekten oder Tagfalter. Sie kommen mit fast jedem Standort zurecht, solange er sonnig ist. Obwohl wir hier nun schon zwei Jahre leben, wurde bisher kaum ein Grashalm geschnitten oder die übliche Gartenpflege vorgenommen. Okay, wir haben einige Fugen der Kopfsteinpflasterung am Weg gesäubert, um dort Mauerpfeffer, Thymian und ein paar Veilchen zu fördern. Die meisten Stauden haben wir direkt in die Wiese gepflanzt. Neben Cephalaria gigantea waren das Veronicastrum virginicum, Selinum wallichianum, und diverse Laser- und Sesel-Kräuter, auch mancher Haarstrang. Aber auch Echinacea purpurea, Nepeta x faassenii oder Francoa sonchifolia treiben mit etwas Unterstützung schön aus der mageren Wiese wieder heraus. Genau auf einem solchen, gerade durchtreibenden Brautkranz stand plötzlich eine ältere Dame mit Stirnband. Sie trug eine gebrochen weiße Hardshell-Jacke und eine farblich passende Wanderhose mit Zipp-off (Ich hasse diese praktischen Dinge!), beides von Mammut. Nur ihr Rucksack von Fitz & Huxley passte nicht wirklich dazu. Vielleicht war er auch von Expatrié. Um dorthin zu gelangen, musste sie vorab entweder auf den gerade verblühenden Eidechsenwurz, Typhonium venosum – der früher mal auf den gefährlicher klingenden Namen Sauromatum venosum hörte – getreten sein oder alternativ auf die noch jungen und sehr zarten Bestände von Chinesischem Süßholz, einer im Austrieb so gar nicht trittfesten Großstaude. Bevor ich die bisherigen Schäden sichten konnte, war sie im Begriff, noch weiter an mich heran zu treten. Als sie mein lautes „STOPP!“ ignorierte, entglitt mir noch ein „Bleiben Sie stehen, Sie blöde …“, wobei das „Kuh!“ fast synchron mit ihrem Tritt auf den Pulmonaria-Sämling ‚Gerhild Diamant‘ erklang, einer sehr schönen Auslese von Christian Wever, staudenfan.de. Immerhin habe ich sie gesiezt, während sie das Lungenkraut mit der festen Sohle ihres Trekking-Schuhs zerquetschte. Aber anstatt, dass ich froh gewesen wäre, nicht in der Nähe der Silberkerzen-Bestände gearbeitet zu haben, überlegte ich kurz, ob es sich hier um Notwehr oder eher Nothilfe handeln würde. Vorsichtshalber legte ich dann doch das Pflanzbeil zur Seite, richtet mich auf und atmete. Nach einem kurzen Versuch der Kommunikation teilte sie mir mit, dass das doch wohl kein Beet sei. Dabei zeigte sie auf den Boden zwischen uns. Sie war aus ihrer Siedlung mit dem PKW in die „Natur“ gefahren, um nach 500 Metern ab Parkplatz eine Abkürzung zum See zu finden und hatte den Zusatz „Gilt auch für Radfahrer und Fußgänger“ unter dem Sackgassenschild glatt übersehen. Da unser Grundstück zum Weg hin nicht mehr vollständig umzäunt ist, kann man es bequem betreten. Wie sagt man am Niederrhein? „Selbst in Schuld!“ Ein paar Tage zuvor, war eine mir fremde Frau sogar hinter mich getreten, um mir auf die Schulter zu tippen und mich zuerst über die Bedeutung der Schilder zu belehren, um mich dann zu fragen: „Wieso führt dieser Wanderweg nicht weiter?“ Sie trug weder Nasen- noch Mundschutz, dafür einen Burberry-Pullover für Herren und eine Jagdhose von Fjällräven in Darkroom-Olive. Nein, sie wollte nicht für möglich halten, dass sie sich irren könnte. In normalen Zeiten hätte ich deutlich geschwiegen und sie nur vom Grundstück begleitet. Diesmal bedauerte ich nur laut ihre Schüler und genoss den Blick ihres schüchternen Begleiters, der an seiner anthrazitfarbenen Fleecejacke von Stubai herumpuhlte. Dem gerade gepflanzten Wolligen Fingerhut (Digitalis lanata) war zum Glück nichts passiert! Anders erging es einigen Pfirsichblättrigen Glockenblumen (Campanula persicifolia) und einem spät blühenden Herbst-Salbei (Salvia azurea) wiederum ein paar Tage zuvor, die von einem Paket-Boten in Engelbert Strauss, der eine Abkürzung … Sie können sich denken, wie diese Nummer ausgegangen ist. Ich habe es ihm sehr höflich erklärt und ihm für seinen Zeitverlust und aus Respekt ein Trinkgeld von 20 Euro zugesteckt. 
Auch vor Corona standen hier plötzlich fremde Menschen in der Sackgasse und sprachen mich an, weil sie das Schild Sackgasse nicht verstehen und weil sie zum Rauchen, Schwimmen, Sonnenbaden, Poppen, Kiffen, Wandern, Knutschen oder was weiß ich eine Abkürzung zum nahen See vermuten. Und weil ihr Smartphone hier kein Google mehr empfängt. Das ist völlig harmloser und erträglicher Normalbetrieb hier in der Naherholung. Die meisten Menschen winken und rufen, wenn sie was wollen und treten erst heran, wenn sie beachtet werden. Das Grundstück hatte hierzu noch niemand betreten. 
Gestern war ich sogar bei meinen Nachbarn, um mich zu erkundigen, ob ich gerade besonders empfindlich bin. Nein, auch sie berichteten von extremen Vorkommnissen mit verweilenden Passanten: „Seit Corona ist es deutlich schlimmer geworden! Neulich versuchte ein Paar sogar eine Pflanze aus unserer Wiese zu reißen. Der Herr trug dabei einen Anzug… Nein, früher war es harmlos dagegen.“ Nun muss man wissen, dass das Grundstück meiner Nachbarn mit einem Zaun und einer hohen Hainbuchenhecke eingefasst ist.
Für gut zwei Wochen wünschte ich mir auch eine hohe Hecke, ein geschlossenes Gartentor und diesen Hortus conclusus, das Schatzkästchen, dass ich nie wollte, weil die Landschaft hier doch schon ganz schön ist. Was nützt aber die geborgte Landschaft, wenn einem halb Düsseldorf und Teile des Ruhrgebiets auf die Pelle rücken! Plötzlich verstehe ich Menschen, die ihre Outdoor-Küche mit einem Doppelstabgitterzaun plus Sichtschutzstreifen in beliebiger Optik einfrieden lassen, um zumindest keine Gespräche am Gartenzaun mehr führen zu müssen. Neulich sah ich sogar Sichtschutzstreifen in Gabionen-Optik. Das fand ich mal so richtig fies-pervers.
Die Sonne kommt durch und ich werde gleich ein paar weitere Stauden in die Wiese versenken. Sie ist knochentrocken und jedes Loch in dem verdichteten Kies- und Sandboden benötigt einige Minuten. Das beruhigt ungemein in diesen emotional so aufgeladenen Zeiten. Aktuell verschenke ich an Freunde kein Gartenbücher sondern „Psychologie der Massen“ von Gustave Le Bon, ja, dem Sänger von Duran-Duran und ja, er mag romantische Gärten.  😉 
Später lade ich Freunde aus der Stadt zum Essen ein. Vielleicht regnet es ja noch. Dann müssen wir nicht in den Garten, sondern können Musik hören. 😉 
Mein Corona-Song ist Immensità von Andrea Laszlo De Simone.

Torsten plant pflanzenbetonte Gärten, hält Vorträge und schreibt Kolumnen, sowie Bücher über die Gestaltung mit Pflanzen. www.matschiess.de 

 

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